Seit geraumer Zeit im Zentrum der Arbeit von Hanfried Brenner und daher auch im Zentrum dieser Ausstellung steht eine so umfangreiche wie vielteilige wie auch anspruchsvolle Serie von Arbeiten. Unter dem Titel „alfabet“ zeigt Brenner seine Verarbeitung einer literarischen Vorlage aus dem Dänischen. Diese Arbeit soll hier im Blickpunkt stehen, da sie geeignet ist, einen exemplarischen Blick auf Brenners Schaffen und Vorgehen zugleich zu werfen.

 


"alfabet version eins" (2005-2007) besteht aus 35 Tafeln in einem identischen Querformat von 77 auf 103 Zentimeter. Montagefolien sind auf den als Rahmenkonstruktion dienenden fast 5 cm dicken Holzlatten befestigt. Auf der Montagefolie ist mit einem unlöslichen Filzstift sowie mit Verbandmull, Acrylemulsion und Farbpigmenten gearbeitet worden. Die Tafeln zeigen verschiedene Farben halbdurchsichtig, häufig Grundfarben wie blau, rot oder gelb, letzteres bis hin zu verschiedenen Ockertönen. Aber auch weiße, dunkelgraue und ins Violette spielende Farbigkeit ist zu entdecken. Fast immer lässt sich durch die Farbigkeit hindurch ein Text erahnen und manchmal auch, obwohl spiegelverkehrt, mit einiger Mühe entziffern. Der Text ist mit dem Filzstift einer serifenlosen Schrift nachzeichnend aufgebracht worden. Manche Tafeln sind voll mit Text, die erste Tafel zeigt nur eine Zeile, immer aber sind die Zeile oder das Zeilenpaket horizontal zentriert, und bis auf wenige Ausnahmen auch vertikal. Jeder Textblock erhält auf diese Weise die Behauptung eines eigenen Statements und ist gleichzeitig immer Bestandteil der anderen Texte auf den anderen Tafeln. Denn wenn der Text relativ viele Zeilen umfasst, so drängt er an den oberen und unteren Rand der Tafeln. Damit wird unwillkürlich von einer zur anderen Tafel übergeleitet – die Wahrnehmung aneinander gebunden, als handele es sich um einen rollenden Vor- oder Nachspann im Kino.

Die mühsame Tätigkeit des Entzifferns der Buchstaben und Wörter lässt die entschlüsselten Bedeutungen umso intensiver in uns eingehen – die Intensität des Textes lässt über die Frage nach dem Wie des Dargestellten die nach der literarischen Vorlage virulent werden. In der Herstellung der Bildtafeln reduziert Brenner seine als handschriftlich erkennbaren Eingriffe auf ein Minimum, immer jedoch unter der Prämisse, dass der Prozess der Herstellung sichtbar bleibt. Dies gilt für die Nägel, die die Folie auf dem Lattenrahmen fixieren ebenso wie für Reste eines Duktus im Farbauftrag. Alles in allem wird man bereits über die Art der Herstellung und nach dem äußeren Anschein „alfabet“ als eine Werkfolge in der Tradition konkreter Kunst verstehen können.

Die literarische Vorlage für Brenners Werk findet sich in dem Langgedicht „Alphabet“ der dänischen Dichterin Inger Christensen (*1935) aus dem Jahr 1981. Insgesamt vierzehn Strophen von zunehmendem Umfang beginnen mit einem Begriff, dessen  Anfangsbuchstabe jeweils von der Reihenfolge des Alphabetes bestimmt ist. Der zunehmende Umfang der Strophen folgt einer Gesetzmäßigkeit der Fibonacci-Folge, in welcher die Folgezahl jeweils aus der Summe der beiden vorhergehenden Zahlen gebildet wird. Inhaltlich entfaltet Christensen in diesen lediglich durch Kommata und Semikola gegliederten Texten ein Geflecht aus Pflanzen und Welt, wobei die Pflanzennamen dem Buchstaben der jeweiligen Strophe folgen. Aus einem einzigen Buchstaben als Anlass entfaltet die jeweilige Strophe ein Panorama des Menschen und der Natur, in der Folge der Strophen wird angestrebt, das Leben zur Gänze zu beschreiben. Mit dem Buchstaben K bricht das Gedicht in der Brenner ursprünglich vorliegenden deutschen Fassung ab.

Der vorletzten, der zehnten Strophe, die dem Buchstaben J gewidmet ist, weist der Künstler für die Ausstellung seiner Arbeiten in Lüdinghausen eine zentrale Bedeutung zu. Er spielt damit nicht nur auf den Monat des Ausstellungsbeginns an, sondern auch auf eine von ihm empfundene persönliche Affinität zu diesem Teil des Gedichtes. Sie dürfte unter Anderem auch der Tatsache geschuldet sein, dass der Juni Brenners Geburtsmonat ist. Beginnt diese Strophe doch mit den Worten „Die Juninacht gibt es ...“

Die Strophe 10 umfasst bereits sehr viele Zeilen, da sie relativ weit hinten im Gedicht liegt. Sie beginnt:

         Die Juninacht gibt es, die Juninacht gibt es,
         der Himmel, endlich wie erhoben zu himmlischen
         Höhen und zugleich so zärtlich gesenkt wie wenn
         Träume gesehn werden können bevor sie geträumt werden; (...)

Wenn sich eine derartige, fast ununterbrochen fließende Poesie aus einer so strengen Form entfaltet, sich entlang mathematischer Vorgaben entwickelt, so hat diese Kombination von Konstruktion und Gehalt Brenner besonders fasziniert. Das Gedicht von Christensen ist gedichteter innerer Monolog und intensive Deklamation zugleich. Der eigentümlichen Faszination, um nicht zu sagen, dem suggestiven Sog, den diese Poesie entfaltet, kann man sich nur schwer entziehen. Christensen wählt mit der Fibonacci-Folge im Hinblick auf ihr welthaltiges Thema bewusst eine Folge von Zahlen, die einen unmittelbaren Bezug zu natürlichen Gegebenheiten hat.  Ein Beispiel sind die Baupläne von Pflanzen, die ihre äußere Form der Lichtausbeute wegen manchmal gemäß der Fibonacci-Folge optimieren.

Die Anverwandlung literarischer Vorlagen hat eine lange Tradition, der sich Brenner wohl bewusst ist. Was üblicherweise unter dem Begriff Adaption zu fassen wäre, benennt Brenner absichtlich mit einem sehr viel intimer gemeinten Begriff, der Adoption. Damit skizziert er das Verhältnis des Künstlers zu seinem Gegenstand als quasi familiäre Beziehung, und spielt auf das Symbiotische im innigen Annehmen des Textes  an. Brenner benutzt die Vorlage nicht so sehr, als dass er sie vielmehr in sich eingehen lässt und sich ganz auf sie einlässt. Dazu verwendet er vorderhand die äußere Gestalt der literarischen Vorlage, die ja gedruckt als Schrift daherkommt und insofern fassbare Letternform aufweist. Im Nachvollzug des Drucks in der Handschrift vertieft sich das Verfahren, die Mühsal der Aneignung steht in direktem Verhältnis zur Verständnistiefe. Für den Künstler ergibt sich so die von ihm selbst beschriebene „visuelle Brücke“. Dem Betrachter versucht er mit der spiegelbildlichen Darstellung und farblichen Verschleierung einen ähnlichen Verstärkungseffekt zu vermitteln. Das inhaltliche Einverständnis des bildenden Künstlers mit der Dichterin lässt sich eventuell mit der Haltung von Agnes Martin vergleichen, deren streng formale Arbeiten vordergründig auch nicht von ihrer tiefen Hinwendung zu John Keats und William Wordsworth künden. Aber über die Gleichsetzung des Wahren mit dem Schönen, wie sie bei den englischen Romantikern aufscheint, geriet der amerikanischen Malerin der Zusammenhang des lyrischen Gedankenguts mit ihrer eigenen Arbeit. Dieser spezielle Konnex zwischen Poesie und Form lässt sich bei Brenner wiederfinden.

Nach eigenem Bekunden hat Hanfried Brenner das Erbe des Informel als Weg zu einer Abstraktion verstanden, die dem Betrachter, wenn sie ihn auch mit den Mühen einer intensiven Rezeption belädt, die Möglichkeit zur intensiven Kunsterfahrung weist. Dass dies eine Rückbesinnung auf die konkrete Kunst ergibt,  auf ein aus den Grundformen als Grunderfahrung entwickeltes Gestaltungsprinzip, kann bei Brenner nicht verwundern. Die stete Wiederholung der Beschäftigung nicht nur mit dem Werk von Christensen, sondern auch die vierfache Bearbeitung des hier genannten Gedichts über einen Zeitraum von vier Jahren beweist die Mühen, die der Künstler unternimmt, um seine Erfahrung, aber auch die des Betrachters zu intensivieren.

Brenners Bilder weisen häufig Objektcharakter auf, zunächst durch ihre ins künstlerische Konzept integrierte Dreidimensionalität, dann durch die verwendeten Materialien und häufig auch durch eine Kombination aus beidem. Diese Eigenschaft verdanken sie der Erkenntnis, dass Malerei heutzutage immer auch ihre eigenen Bedingungen und Mittel mitreflektieren muss. Selbst dort, wo wie in dem vorliegenden Beispiel, Literatur den rechtfertigenden Umstand des Bildes liefern könnte, ruht sich Brenner nicht auf diesen Gegebenheiten aus. Er umkreist vielmehr die bildnerischen Möglichkeiten, die sich angesichts einer literarischen Großvorlage stellen, erkennt die Textualität als Chance für seine Bilder und meistert die poetische Herausforderung mit ebensolcher poetischer Handlung, wie sehr sie sich auch zunächst als systematisches Vorgehen gerieren mag. Insofern ist Brenner in diesen Werken als bildender Künstler zugleich ein konkreter Poet.

 

----------------

 

Einführungsrede gehalten von Peter Schmieder bei der Eröffnung der Ausstellung „die juninacht gibt es“ am 1. Juni 2008

 


zurück

 

 

Druckversion | Sitemap
© Hanfried Brenner

Erstellt mit IONOS MyWebsite.