Ist es noch Malerei oder handelt es sich nicht eher um ein dreidimensionales Gebilde? Haben wir eine Skulptur vor uns? Oder geht es hier um Objektkunst? Ein Bild: was ist das eigentlich? Was
bedeutet Malerei heute? Was will sie von uns? Was kann sie für uns bedeuten?
Um diese Fragen soll es hier gehen. Allerdings weniger auf einer theoretischen als auf einer praktischen Ebene. Gemeinsam mit Ihnen möchte ich diesen Fragen nachgehen und zwar auf der Ebene der
künstlerischen Praxis.
Aus meiner Sicht umfasst der Begriff der künstlerischen Praxis nicht nur das, was ich und meine Kolleginnen und Kollegen an unseren Arbeitsstätten tun und treiben. Gewiß: wenn ich in meinem Atelier
stehe und arbeite, wenn ich zum Beispiel eine ganz bestimmte Farbe, einen Werkstoff oder ein spezielles Material auswähle oder auch verwerfe, dann ist das künstlerische Praxis. Indessen schließt die
künstlerische Praxis aus meiner Sicht auch jenen Beitrag ein, den das Kunstpublikum beizubringen hat. Die Rede ist von jener Leistung der Individuen, die vor einem Kunstwerk stehen und sich bemühen,
es wahrzunehmen und zu verstehen. Die Kunst-Rezeption halte ich für einen integralen Bestandteil der Kunstpraxis.
Kürzlich rief mich ein Kollege an und fragte mich unter Verweis auf den Titel dieser Ausstellung: Weißt du eigentlich, was das Ur-Bild der Menschheit ist? Ich wusste es nicht. Der Kollege erklärte
mir, das Ur-Bild der Menschheit sei der Mond. Dies hinge damit zusammen, dass der Mond nicht aus sich selbst heraus leuchten kann. Er bedarf dazu der Sonne, die ihm ihre Strahlen schenkt. Ob die
Hypothese vom Ur-Bild der Menschheit zu verifizieren ist, weiß ich nicht. Jedenfalls scheint sie mir geeignet, einen bestimmten Gedanken anschaulich zu machen. Einen Gedanken, den ich Ihnen heute
Abend gerne nahe bringen möchte. Ohne die Sonnenstrahlen, die er reflektiert, kann der Mond am nächtlichen Firmament nicht erscheinen. Auch ein Kunstwerk bleibt aus sich selbst heraus irreal. Ohne
Ihr Engagement und Zutun, verehrte Anwesende, kommt die hier präsentierte Kunst über den Zustand einer uneingelösten Möglichkeit nicht hinaus. Ein Kunstwerk tritt erst ins Leben vermittels der
Rezeptionsleistung eines an ihm sich abarbeitenden Publikums.
Ich bitte Sie also um Mitarbeit. Ich wünsche mir von Ihnen eine selbständige, das bedeutet auch eine unvoreingenommene Wahrnehmung. Mit eigenen Augen sozusagen. Und nicht nur mit Augen. Auch die
anderen Sinnesorgane gilt es zu nutzen, der Geruchssinn nicht ausgenommen. Bei meinen Arbeiten ist es nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht, sie zu berühren. Meine Kunst ist von jener Art, dass
sie sich zu allererst der sinnlichen Wahrnehmung darbietet. Das ist ganz wichtig. Ich möchte an dieser Stelle das Wort "verstehen" bewusst meiden.
Zwar geht es unbestritten auch um ein gedankliches Nachvollziehen. In letzter Instanz um etwas Geistiges. Aber dieses erschließt sich bei meiner Kunst nicht ohne das Bemühen, der künstlerischen
Technik, den handwerklichen Aspekten und der Verfahrendweise nachzuspüren. Diesen Aspekten vor allem verdankt das jeweilige Gebilde sein besonderes So Sein. Nicht von ungefähr bestehe ich auf
technischer Transparenz. Sie ist unter den Kriterien, die mein ästhetisches Konzept ausmachen, eines der wichtigsten. Ich lehne es ab, die technische Machart der Gebilde zu kaschieren und zu
verschleiern. Verschraubungen und andere technisch bedingte Details bleiben erkennbar. Sie fügen sich als Momente des ästhetischen Ganzen in die Werkgestalt ein.
Auch jene meiner Arbeiten, die der herkömmlichen Malerei und der Zeichenkunst nahe stehen, sind im Grunde als dreidimensionale, plastische Gebilde aufzufassen. Daraus folgt zum Beispiel, dass die so
genannten Bildkanten nicht zu ignorieren sind. Ich bitte auch darum, von den empfindlichen Fingerspitzen sensorisch Gebrauch zu machen. Durch taktile Wahrnehmung ist den Materialeigenschaften
nachzuspüren. Härte, Weichheit, Klebrigkeit, Glätte, Rauheit, Kühle und Wärme der Oberflächen wollen erkannt werden. Bisweilen spielt auch der Geruch mit, speziell da, wo ich mit Leinölfirnis
gearbeitet habe. Taktiles Wahrnehmen empfehle ich etwa bezüglich der großformatigen Arbeit "lenin zu besuch" (jene Arbeit, auf die Thomas K. Geiter mit seiner Performance Bezug genommen hat).
Nur für die Arbeiten auf Papier bitte ich um Schonung. Sie dürfen nicht berührt werden. Warum präsentiere ich sie dennoch ohne schützendes Glas? Der Verzicht auf Glas ist für mich unabdingbar. Sonst
würden diese Arbeiten ästhetisch nicht wirklich funktionieren. Im Kontext meines Werkes subsumieren sich auch Zeichnungen in gewisser Beziehung unter den Aspekt der Objektkunst. Das Papier und die
aufgetragene farbliche Subtanz wollen in ihrem Materialcharakter erkannt und in ihrer minimalen Plastizität wahrgenommen werden. Generell gilt für meine Arbeiten das Kriterium der Offenheit
gegenüber der "Außenwelt". Rahmungen verbieten sich von selbst. Ein Abschließen oder Abkapseln gegenüber dem Außen stünde meiner künstlerischen Intention entgegen. Die Beziehung zur Umgebung, zu
Raum, Wand und Architektur soll sich integrativ, iin bestimmten Fällen sogar symbiotisch gestalten.
Auf einen besonderen Werksstrang möchte ich jetzt eingehen. Das Stichwort lautet Adoption. So nenne ich ein Werksegment, das seit mindestens sieben Jahren eine zentrale Stellung in meinem Schaffen
einnimmt.
Es geht um eine spezielle Variante bildnerischer Grenzüberschreitung. Ich nähere mich einem literarischen Gegenstand - bis jetzt waren es fast immer Gedichte -, indem ich auf seine Schriftgestalt
zugreife. Ein von Hand geschriebener oder auch ein gedruckter bzw. kopierter Text kann es vielleicht ermöglichen, die Kluft zwischen den Kunstgattungen, zwischen Literatur und bildender Kunst, zu
überbrücken. Mein Konzept der Adoption schließt auch ein subjektives Moment ein. Die handwerklichen und technischen Mühen, die dem Künstler durch die bildnerische Übertragung eines Textes abverlangt
werden, intensivieren und vertiefen die gedankliche Durchdringung der Dichtung und befördern deren psychische Anverwandlung.
Im Zentrum meiner adoptiven Kunst standen bisher Texte der dänischen Dichterin Inger Christensen. Die Lyrik der heute über siebzigjährigen Autorin hat mir starke Impulse gegeben. Drei ihrer so
genannten Großgedichte habe ich in umfangreichen Zyklen zu Bildobjekten verarbeitet. In dieser Ausstellung ist das Segment Adoption nur mit zwei Arbeiten vertreten. Die Arbeit "lenin zu besuch"
beansprucht im Ausstellungskontext eine Sonderstellung. Ihr Titel lässt es kaum vermuten, aber es handelt sich hier um die Adoption eines Gedichtes des russisch-tschuwaschischen Autors Gennadij Ajgi.
Ajgi hat auch in Deutschland eine kleine Lesergemeinde gefunden. Er ist vor ungefähr zwei Jahren gestorben. Das Gedicht hat den Titel "In den Pausen der Schlaflosigkeit".
Was hat nun Gennadij Ajgis Gedicht "In den Pausen der Schlaflosigkeit" mit Lenin, dem Spiritus Rektor der Oktoberrevolution, zu tun? Vielleicht konnte uns die Performance, deren Zeugen wir vor
einigen Minuten sein durften, Anhaltspunkte geben. Ajgi, der erst zehn Jahre nach Lenins Tod das Licht der Welt erblickte, war vermutlich kein Marxist oder Leninist. Aber darüber will ich nicht
spekulieren. Hinweise zur Biographie von Gennadij Ajgi finden Sie - wie übrigens auch das Gedicht - in der ausliegenden Lesemappe.
Ich will nun zum Schluss kommen und kehre zurück zu meiner Ausgangsfrage.
Bekanntlich sind wir Heutigen einer noch nie da gewesenen Flut von Bildern ausgesetzt. Und nicht nur das. Die bestehenden technischen Möglichkeiten befähigen heute jedes Kind, Bilder zu generieren
und zu manipulieren. Diese Tatsache tangiert natürlich die Bildende Kunst, fordert sie heraus und zwar auch in der Hinsicht, daß sie mit einer Fragwürdigkeit des Mediums Bild konfrontiert ist, wie
die Menschheit sie bisher nicht kannte. Es liegt nicht in meiner Kompetenz, diese Problematik theoretisch zu durchdringen oder sie in das Licht einer philosophischen Betrachtung zu stellen. Der
praktischen Konfrontation mit ihr kann ich mich allerdings nicht entziehen, berührt sie doch das bildnerische Tun an seinem kreativen Nerv. Meine Kunst reflektiert dies als Neigung zum Negativen, als
Lust an der Dekonstruktion. Der Bilderinflation begegnet die Malerei mit praktischer Selbstkritik. Sie misstraut sich selbst, da sie als Bilder erzeugendes Medium ins Zwielicht geraten ist. Nicht
länger darf ein Bild, das auf seine ästhetische Würde hält, die eigene Fragwürdigkeit verkennen oder ignorieren. Der Sog zur Objektkunst, wie mein Werk ihn widerspiegelt, dürfte hier seinen Ursprung
haben.
Vieles von dem, was ich in diesem Beitrag zur Sprache gebracht habe, trägt - wie ich hoffe - ganz allgemein zum Verständnis der heutigen bildenden Kunst bei. Es ging mir nicht so sehr darum, das
Besondere meiner Kunst herauszustellen. Dieses aufzuspüren, möchte ich dem Publikum überlassen. Wer dazu Fährte aufzunehmen will, achte auf Eigenartiges und Sonderbares, das speziell in der
technischen Beschaffenheit meiner Arbeiten zu entdecken ist. An dieser Stelle sei nur auf die Verwendung von Verbandmull in Verbindung mit Acrylemulsion und Leinölfirnis verwiesen.
Der Eindruck könnte entstehen, aktuelle Kunst sei unattraktiv. Ihr sei die Schönheit abhanden gekommen. Statt Kunstgenuss seien nur Mühe und Anstrengung zu erwarten. Dem ist nicht so. Die Kategorie
des Schönen ist auch für die heutige Kunst das konstituierende Moment. Aber dieses Schöne wird sich Dir nicht augenblicklich an den Hals werfen. Spröde und widerspenstig, wie es ist, gibt es sich
nicht ohne aktives Werben, nicht ohne die Zuwendung einer intensiven Wahrnehmung. Dabei wünsche ich Ihnen viel Vergnügen.
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Einführungsrede, gehalten anläßlich der Eröffnung der Ausstellung "Was ist ein Bild" in der Galerie Dieter Fischer am 24. Januar 2008